Russland: Februarrevolution

Russland: Februarrevolution
 
Am 22. Februar 1917 (nach dem zu dieser Zeit in Russland gültigen julianischen Kalender) streikten in Petrograd, wie die russische Hauptstadt seit 1914 hieß, über 100000 Arbeiter. Einen Tag später schlossen sich die vor den Lebensmittelläden Schlange stehenden Frauen an. Das war der Durchbruch in einer seit dem Jahrestag des »Blutsonntags« von 1905 anhaltenden Demonstrationswelle. Am 25. Februar herrschte Generalstreik, am 26. begannen die Soldaten der Garnison auf die Seite der Aufständischen überzugehen, am 27. war die Stadt in ihren Händen, zwei Tage später auch Moskau. Das alte Regime erwies sich als unfähig, dieser Herausforderung zu begegnen. Zar Nikolaus II. dankte am 2. März ab.
 
Die Reformen, die nach der Revolution von 1905 eingeleitet worden waren, hatten die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme des Zarenreichs nicht lösen können. Die Gegensätze zwischen den herrschenden Schichten und der Mehrheit des Volkes hatten sich im Weltkrieg weiter verschärft. Militärisch konnte sich das Regime zwar wieder von mehreren schweren Niederlagen gegen die deutschen Truppen erholen; die Kriegswirtschaft jedoch blieb in vielen Bereichen wenig effektiv, die Lebensmittelversorgung der Städte brach zusammen. Die liberale Opposition gegen den Zaren verlor zusehends an Rückhalt im Volk, da sie sich immer wieder zu Kompromissen bereitfand, ohne dass es zu einer grundlegenden Besserung kam. Die Autorität des Zaren verfiel, sogar konservative Kreise erörterten einen Umsturz. Als erste Tat wurde im Dezember 1916 der Mönch Rasputin ermordet, um dessen Einfluss auf die Zarenfamilie auszuschalten. Die spontane Erhebung vom Februar 1917 konnte dies allerdings nicht mehr aufhalten.
 
Während der Revolution entstanden wie schon 1905 Sowjets (Räte) der Arbeiter und Soldaten, die bald von Bauernsowjets ergänzt wurden. Betriebe, Truppeneinheiten, Stadtbezirke oder Dörfer wählten nach einem bestimmten Schlüssel ihre Vertreter in die örtlichen Sowjets. Diese wiederum entsandten Delegierte in das nächsthöhere Gremium bis hinauf zum Allrussischen Sowjetkongress, der Anfang Juni 1917 erstmals zusammentrat, und zum Zentralen Exekutivkomitee. Der Petrograder Sowjet, der sich am 28. Februar konstituierte, hätte die Regierungsgewalt übernehmen können. Die Mitglieder zweifelten jedoch, ob sie sich überall im Land Anerkennung verschaffen könnten und fähig sein würden, Russland Brot, Freiheit und Frieden zu bringen. Manche meinten, Marx interpretierend, es müsse zunächst eine bürgerliche Demokratie aufgebaut werden, bevor man zum Sozialismus übergehen könne.
 
Deshalb beschränkte sich der Sowjet darauf, dem ebenfalls am 28. Februar aus dem alten Parlament hervorgegangenen Provisorischen Duma-Komitee und der am 2. März von diesem gebildeten Provisorischen Regierung die Grundsätze der künftigen Arbeit vorzuschreiben: Die politischen Freiheiten und Selbstvertretungsrechte sollten gewährleistet, die Demokratisierung des Militärs, die Aufhebung aller Klassen-, Nationalitäten- und religiösen Beschränkungen in die Wege geleitet werden. Die »Doppelherrschaft« hatte begonnen.

Universal-Lexikon. 2012.

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